When the Body is queer, I feel free – Das Ballett zwischen Herrschaft und Emanzipation


Bei einem Besuch im Berliner Technoclub Berghain tanzte ich neben einem Mann, dessen Bewegungen sehr rund und flüssig zum Rhythmus der Musik passten. Als ich ihm mitteilte, dass ich seine Art zu tanzen sehr schön finde und es Spaß mache, sich neben ihm zu bewegen antwortete er: „When the bodies are queer, I feel free“. Was er damit meinte war, dass die Anwesenheit queerer Personen und deren Bruch mit Bewegungsnormen ihn dazu befähigten, sich ebenfalls frei zu bewegen. Innerhalb patriarchaler Machtverhältnisse werden Menschen in die Kategorien „Mann“ oder „Frau“ eingruppiert, wodurch bestimmte Erwartungen an sie gestellt werden. „Männer“ trauen sich daher beispielsweise weniger die Hüfte zu schwingen, da diese Bewegung „weiblich“ codiert ist. Queere Körper entziehen sich der binären Codierung und können sich so freier verschiedene Tanzbewegungen aneignen. Die Körper werden zu Instrumenten des Selbstausdrucks und befreien sich von gesellschaftlichen Fremdzuschreibungen.

Eine ähnliche Erkenntnis ermöglichte der Kurzfilm „I Don’t Need a Reason“, der auf der Videoplattform Nowness veröffentlicht wurde und ein Portrait der Drag Queen Lady Camden zeigt. Im Film tanzen Max van der Sterre und Rex Wheeler/ Lady Camden ein zeitgenössisches Ballett Pas de Deux zu Debussys „Clair de Lune“. Der Film wechselt dabei zwischen Aufnahmen, die zeigen, wie Lady Camden mit rosa Tutu, Perücke und langen Wimpern und Max van der Sterre in einem für das Ballett typischen Männerkostüm in einem pompösen Ballsaal tanzen und Aufnahmen, die zeigen, wie beide Tänzer in schlichter Kleidung dieselbe Choreografie in einem hellen Industrieraum vollführen. Durch den Wechsel der Aufnahmen wird deutlich, dass Rex Wheelers „männlich“ gelesener Körper durch die äußere Kostümierung als Lady Camden zu einer „weiblichen“ Rolle wird. Dies zeigt, dass die Bewegungen an sich weder „männlich“ noch „weiblich“ sind und lediglich als „männlich“ oder „weiblich“ codiert werden. Je nach äußerem Erscheinungsbild der Person werden die Bewegungen unterschiedlich interpretiert. Durch Lady Camdens Tutu wird den Linien und Formen, die der Körper durch seine Bewegungen zeichnet, eine „weibliche“ Rolle zugeschrieben und auch ihre Bewegungen als klassische „weibliche“ Ballettfiguren interpretiert, wodurch der eigentlich „männlich“ gelesene Körper zu einem „weiblichen“ wird.

Im Zentrum des Balletts als Tanzform steht der Körper, von dem ausgehend die*der Tänzer*in eine Geschichte erzählt. Diese Geschichte kann sowohl eine Handlungsgeschichte sein als auch die abstrakte Geschichte von Linien, Formen und Bewegungen im Raum. Der Körper wird zum Instrument der Darstellung und trägt die Narration. Betrachtet man den Körper als Zeichenträger, so zeigt sich anhand des Filmbeispiels, dass er nicht nur die narrative, choreografierte Geschichte repräsentiert, sondern auch Träger inkorporierter Machtstrukturen, Codes und Fremdzuschreibungen ist. Wie lässt sich der Ballettkörper von diesen Machtstrukturen, Codes und Zuschreibungen befreien, sodass er dem Selbst der*des Tanzenden Ausdruck verleihen kann? Für die Untersuchung dieser Frage ist es wichtig, zwischen dem Ballett als Tanzform und dem Ballett als Institution zu unterscheiden. Während mit Ballett als Tanzform die sich bewegenden Körper auf der Bühne gemeint sind, bildet das Ballett als Institution den Raum, in dem sich die Kunstform entfaltet. Die herrschenden Codes organisieren sowohl die körperlichen Bewegungen als auch die Anordnung der Körper im Raum, beziehungsweise im Opernsaal. In diesem Essay möchte ich daher den Fragen nachgehen, welche herrschaftlichen Effekte vom Ballett als Tanz und vom Ballett als Institution ausgehen und wie die emanzipatorischen Potenziale des Balletts entfaltet werden könnten. Als Hypothese soll angeführt werden, dass das Konzept „Queerness“ bei der Neuausrichtung des Balletts von Bedeutung sein kann.

Von der Vergangenheit zur Gegenwart des Balletts

Um den zugrundeliegenden Machtstrukturen des Balletts nachzuspüren, ist ein Blick auf seine Entstehungsgeschichte hilfreich. Eine Genealogie des Balletts kann Aufschluss darüber geben, innerhalb welchen historischen Kontextes es entstanden ist und wie es in die gegebenen Herrschaftsverhältnisse eingebunden war. Dies wirft die Frage auf, welche gesellschaftliche Funktion ihm in der Vergangenheit zugekommen ist, welche Funktion es in der Gegenwart hat und welche es innerhalb einer progressiven Gesellschaft erfüllen könnte.

Ballett entstand im 15. und 16. Jahrhundert an den Barocken Höfen Europas. Es wurde zunächst von Mitgliedern des Hofes selbst getanzt (Fischer-Lichte, S.51) und war fester Bestandteil der höfischen Feste (Fischer-Lichte, S. 54). Den einzelnen Figuren des Bewegungskanons wurden Bedeutungen wie Dank, Huldigung, Werbung und Weigerung zugeschrieben, wodurch sich, im Zusammenspiel mit der Anordnung der Körper im Raum, deren Beziehungen zueinander abbilden ließen. Durch eine entsprechende Anordnung konnte auf aktuelle Ereignisse eingegangen werden, womit das Ballett (und die Oper) „auf nahezu ideale Weise das Gottesgnadentum des absolutistischen Fürsten sowie den politischen Anspruch seines Hofes als Machtzentrum gegenüber dem eigenen Adel sowie auch gegenüber fremden Höfen [repräsentieren konnte]“ (Fischer-Lichte, S. 54). Mit der Gründung von Ballettakademien wurde die Professionalisierung der Tanzform eingeleitet und das Ballett „etabliert[e] sich als autonome Bühnengattung“ (Brandstetter, S. 330). Zur Zeit der Romantik entstanden Stücke wie Giselle oder La Sylphide, die auch heute noch fester Bestandteil des Repertoires der meisten Ballettkompagnien sind. Den Höhepunkt des klassischen Handlungsballetts stellt die Zeit des kaiserlich russischen Balletts und die Ära Marius Petipa und Peter Tschaikovsky dar, die die weltweit bekannten Werke Dornrösschen (1890), Nussknacker (1892) und Schwanensee (1895) entwickelten (Brandstetter, S. 330). Mit der Professionalisierung des Bühnentanzes entstand auch die Notwendigkeit, Bühnen und Räume zu gestalten, die den Nutzen der herrschaftlichen Repräsentation erfüllten. So waren die im 17. Jahrhundert entstehenden Theater- und Opernhäuser als Rang- und Logentheater konzipiert. Diese „Raumkonzeption repräsentierte [...] eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft: Der Platz eines Zuschauers ließ einen weitgehend zutreffenden Schluß [sic] über seine Stellung innerhalb der höfischen Hierarchie zu“ (Fischer-Lichte, S. 46). Beispielsweise saß der Fürst an dem Punkt im Raum, auf den die Bühnenperspektive, der Fluchtpunkt, ausgerichtet war. Mit dem Einnehmen des Platzes stellte der Souverän „den idealen Zuschauer, nämlich Gott, [dar], der allein fähig ist, den Bühnenraum (die Welt) in der richtigen Perspektive wahrzunehmen“ (Fischer-Lichte, S. 46). Der soziale sowie architektonische Raum, in dem Ballett entstand, sowie die sich darin bewegenden Körper repräsentierten demnach die Macht des Hofes und des herrschenden Souveräns. Die bewusste Anordnung der Subjekte folgte strengen Regeln und Codes. Lässt sich hier eine Brücke zur heutigen Situation des Balletts schlagen? Wenn das Ballett und die dafür konzipierten Räume der Repräsentation absolutistischer Macht dienten, muss auch die Frage gestellt werden, was das Ballett und seine Aufführungsräume heute repräsentieren.

Raum, Körper, Repräsentation – Für wen ist das Ballett?

Jörg Rössel und Michael Hoelscher untersuchen in ihrer Studie „Wer geht warum in die Oper?“ die Zusammensetzung des Opernpublikums[1]. Das wenig überraschende Ergebnis zeigt, dass vor allem ein hoher Bildungsgrad, die finanziellen Mittel und die sozialen Kontakte darüber entscheiden, ob Menschen in die Oper gehen oder nicht (Rössel und Hoelscher, 2017, S. 250-252). Es ist demnach die sozial gehobene (und nach eigenen Beobachtungen weiße und heteronormative) Klasse, die sich in den Logentheatern und herrschaftlichen Opernsälen zusammenfindet. Die beiden Autoren beziehen sich auf Bourdieu, der im „Hochkulturkonsum primär ein habitusgesteuertes, klassenspezifisches Distinktionsverhalten“ sieht (Rössel und Hoelscher, 2017, S. 242). Nach Bourdieu ist Geschmack und Habitus kein Ausdruck von Individualität, sondern ein Produkt der Geschichte und der milieuspezifischen Prägung einer Person: „Das „Auge“ ist ein durch Erziehung reproduziertes Produkt der Geschichte“ (Bourdieu, 2021, S. 21). Um Kunst als Gegenstand der Hochkultur konsumieren zu können, bedarf es nach Bourdieu eines kunstspezifischen Wissens sowie eines Vokabulars spezifischer Begriffe und Wörter „über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam Wahrnehmungsprogramme erstellen“ (Bourdieu, 2021, S. 19). Kunstkonsum wird so zu einem „Akt der Dechiffrierung oder Decodierung“ (Bourdieu, 2021, S. 19) und ist einzig für diejenigen von Interesse, die „die kulturelle Kompetenz, d. h. den angemessenen Code [besitzen]“ (Bourdieu, 2021, S. 19). Wer den spezifischen Code nicht erlernt hat, „fühlt sich […] überwältigt und „verschlungen““ (Bourdieu, 2021, S. 19). Die Codes, Begriffe und Wörter sind nach Bourdieu historisch gewachsen und verankert im Kantischen

Gegensatz zwischen „Sinnen-Geschmack“ und „Reflexions-Geschmack“, zwischen leichtem, auf Sinnenlust verkürztem sinnlichem Vergnügen, und reinem, von Lust gereinigtem Vergnügen, das wie geschaffen scheint zur Symbolisierung moralischer Vollkommenheit. (Bourdieu, 2021, S. 26)

Während diejenigen, die die Codes erlernt haben, zum Reflexions-Geschmack befähigt sind, können diejenigen, denen die Codes unbekannt sind, nur die „primären“ Bedeutungen, wie sichtbare Formen, Farbtöne oder direkte emotionale Reaktionen wahrnehmen (Bourdieu, 2021, S. 19). Mit der Unterteilung in zwei Geschmackskategorien eröffnet sich ein Möglichkeitsfeld für Distinktion und Klassifizierung, denn:

Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und häßlich [sic], fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät. (Bourdieu, 2021, S. 25)

Auch für das Ballett gelten solche Codes und Begriffe. Die Historie des Balletts hat sich sowohl in die Tanzbewegungen, die Stücke und die Körper auf der Bühne als auch in den sozialen Raum der Institution eingeschrieben. Wer sich im Opernhaus ein Ballettstück ansieht, versteht sich mit großer Wahrscheinlichkeit als jemand, der sich, bewusst oder unbewusst, zum sakralen „Reflexions-Geschmack“ befähigt sieht. Die Kernstücke wie Schwanensee oder Dornrösschen sind den Ballettbesucher*innen bekannt und auch das Wissen über den Verhaltenskodex im Operngebäude ist vorhanden. Wenn während der Vorstellung an unpassender Stelle geklatscht wird, erfährt die unwissende Person eine Disziplinierung in Form eines spitzen Zischens. Wer sein Getränk mit in den Saal nimmt, wird mit mahnenden Blicken gestraft. In den Pausen wird sich über die heutige Leistung der Ersten Solistin ausgetauscht oder die Inszenierung bestaunt oder zerpflückt. Der Ballettabend wird zum Wissenswettstreit und dient zur Bestätigung des eigenen kulturellen und sozialen Kapitals[2]: Wer hat die größte Expertise? Wer passt am besten in den Rahmen, wer fällt heraus? Wenn der Habitus nach Bourdieu „nicht nur maßgeblich dafür [ist], wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt, wie er handelt und wie er sich selbst verortet. Sondern auch dafür, wie ein Mensch von seiner Umwelt wahrgenommen, behandelt und verortet wird“ (Lieder, 2020, S. 70), fühlen sich Menschen, denen diese Codes nicht bekannt sind, möglicherweise abgeschreckt? Wirft man einen Blick auf die Verteilung der Preiskategorien im Opernsaal, so fällt zudem auf, dass die Plätze mit bester Sicht auf die Bühne der oberen Preiskategorie angehören, während die günstigsten Plätze diejenigen mit teilweise eingeschränkter Sicht sind. Übertragen hieße dies, dass die räumliche Anordnung der Zuschauenden auf ihren jeweiligen finanziellen und somit gesellschaftlichen Stand in der Klassengesellschaft verweist – ganz so wie es auch zu höfischen Zeiten der Fall war. Was macht das mit einem Menschen, der sich auf die preisgünstigen Plätze setzen muss, während unten im Parkett diejenigen Platz nehmen, die viel Geld besitzen? Und wer fühlt sich hier in seiner „Herrschaftsposition“ repräsentiert und bestärkt? Neben der Anordnung des sozialen Raums zeigen auch die Körper und Stücke auf der Bühne wer sich repräsentiert fühlen darf und soll. Tänzer*innen an großen Ballettkompagnien sind beispielsweise selten Schwarz und erst kürzlich wurde die erste nicht-binäre Person als Spitzentänzer*in an einer Ballettkompagnie angenommen. Dies ist ein großer Entwicklungsschritt, denn der Spitzentanz gehört traditionell zum Bewegungskanon der eindeutig „weiblich“ gelesenen Personen einer Tanzkompagnie. Auch die Stücke behandeln selten Themen, die existierende Rollen- und Klassenbilder konfrontieren. Stattdessen zählen Stücke wie La Bayadere und der Nussknacker zum Repertoire, die traditionelle Rollenbilder von „Mann“ und „Frau“ repräsentieren und mit Rassismen und Orientalismus behaftet sind. Die Körper auf der Bühne, als Instrument der Narration und Zeichenträger von Codes, sind derzeit dem herrschaftlichen Geschmack der gehobenen Klasse unterworfen, denn sowohl die Körper als auch die Narrationen repräsentieren die Eigenschaften und Sehgewohnheiten der oberen Klasse. Wer sich für den Weg des professionellen Balletttanzes entscheidet, entschließt sich auch zur jahrelangen Disziplinierung und zu einer Kunstform, die sich bis ins Äußerste in den Körper einschreibt, ihn formt und bestimmt. Vor dem beschriebenen Hintergrund stellt sich die Frage: Wofür?.

Warum Ballett? Das emanzipatorische Potenzial freisetzen!

Die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte und zur aktuellen Situation des Balletts haben gezeigt, dass sowohl die Tanzform als auch die Institution von Machtstrukturen durchzogen sind, die die Herrschaftsposition der oberen (weißen und vorwiegend heteronormativen) Klasse stützt. Die einleitend beschriebenen Beispiele aus dem Berghainund dem Kurzfilm „I Don’t Need a Reason“ haben jedoch auch das emanzipatorische Potenzial des Balletts offenbart. Durch seine Befähigung des*der Tanzenden zum Selbstausdruck, wird den Subjekten die Möglichkeit gegeben, sich den normierenden Machtzugriffen zu entziehen. Wie kann dieses Potenzial nun freigesetzt werden?

Zum einen bedarf es eines neuen „Blicks“ auf die sich bewegenden Körper: Die Kuratorin Jenny Schlenzka regt in einem Leser*innenbrief an das Frieze Magazin an, dass sich Kunst- und Kulturorganisationen ein Vorbild an Nachtclubs wie dem Berliner Berghain nehmen sollten. Sie sieht in den Gegebenheiten des Clubs eine Chance für das Überwinden von Klassenunterschieden und Fremdzuschreibungen. Wie sich der „Blick“ auf den Körper und seine Bewegungen im Berghain vom „Blick“ innerhalb anderer Räume unterscheidet, wird exemplarisch durch die Abwesenheit von Spiegeln deutlich, denn diese verhindern den „typical retreat back into ourselves“ (Schlenzka, 2019). Wenn Widerstand Selbstausdruck bedeutet, wirkt Herrschaft durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Erwartungen auf das Subjekt ein – das Subjekt richtet einen „äußeren“ Blick auf sich selbst und bewertet diese Selbst in Relation zur gesellschaftlichen Norm. Symbolisiert durch die Abwesenheit der Spiegel besteht im Berghain jedoch ein Raum, in welchem der verinnerlichte „äußerliche“ (gesellschaftliche) Blick das eigene Selbst nicht be- und verurteilen kann. Das Selbst steht nicht unter dem Eindruck der Herrschaftsverhältnisse und kann sich stattdessen widerständigen, weil normabweichenden Ausdruck verschaffen.

Betrachtet man den Körper als ein Einsatzfeld der Macht, durch die er diszipliniert und geformt wird, kann Ballett, als eine Bewegungssprache, neue Möglichkeiten des individuellen Selbstausdrucks bereithalten und so als eine Form des Widerstands angesehen werden. Wichtig ist hierbei, Macht nicht nur in ihrer destruktiven, sondern auch in ihrer produktiven Eigenschaft zu verstehen. Entscheidend wäre dann, ob die Übung und Perfektionierung bestimmter Tanzschritte, eine herrschaftliche Disziplinierung oder eine Selbstdisziplinierung darstellt. Versucht der*die Tanzende vor dem „äußeren“ Blick zu bestehen, oder soll durch die eigene Disziplinierung dem Selbst besser Ausdruck verliehen werden können? Und kann im Ballett überhaupt zwischen einem „äußeren“ Blick und einer Form des Selbstausdrucks unterschieden werden, wenn man bedenkt, dass der Körper von klein auf durch den eigenen „äußeren“ Blick in den Spiegel[3] diszipliniert und geformt wird? Durch das Beispiel des Kurzfilms „I Don’t Need a Reason“ und der nicht-binären Person, die auf Spitze tanzt, wird deutlich, wie Ballett als körperliche Selbstdisziplinierung dem Selbst Ausdruck verleihen kann. Eine solche eindeutige Beurteilung der Situation ist nicht immer möglich, weshalb es entscheidend ist, wie der (institutionelle) Raum gestaltet ist. Wichtig ist, dass dieser Raum nach dem Prinzip „When the bodies are queer, I feel free“ funktioniert. Was bedeutet diese Betrachtungsweise für das Ballett als Institution?

Wenn der Klassenkampf für Bourdieu „stets auch ein Kampf um Anerkennung und Mitbestimmung im öffentlichen Raum“ (Lieder, 2020, S. 71) ist und der „Reflexions-Geschmack“ zur elitären Distinktion genutzt wird, kann dessen Überwindung eine Chance für das Ballett sein. Jenny Schlenzka schreibt in ihrem Leser*innenbrief, dass Menschen nicht ausgehen, um zu lernen, sondern um eine Erfahrung zu machen: „You don’t go out to learn; you go out to have new experiences“ (Schlenzka, 2019). Mit John Dewey lässt sich Kunst als eine ästhetische Erfahrung begreifen, die zwischen dem Kunstwerk und dem*der Betrachter*in zu verorten ist (Dewey, 1980, S. 65). Werden diese beiden Überlegungen miteinander verbunden, muss gefordert werden, dass das Ballett als Institution ein Raum wird, in dem das Rezipieren von Kunst von Vorwissen und Codes im Sinne des „Reflexions-Geschmacks“ befreit wird und stattdessen die primäre, sinnliche Wahrnehmung/Erfahrung in den Fokus rückt. Da jede Erfahrung individuell unterschiedlich ist, kann es kein richtiges oder falsches „Wissen“ über Kunst geben, wodurch der elitären und herrschaftlichen Distinktion die Grundlage entzogen wird.

In der realen Umsetzung ist die Überwindung der Traditionen und eine Neuausrichtung des Balletts nicht einfach zu erreichen. Grund zur Hoffnung darf trotzdem bestehen, denn Momente wie der Kurzfilm „I Don’t Need a Reason“ oder die Nachricht über eine*n nicht-binäre Tänzer*in auf Spitze zeigen, dass eine Reformation des institutionellen Raums des Balletts durch „Queerness“ möglich ist. „Queerness” ist in diesem Kontext nach bell hooks zu verstehen als:

(…) not as being about who you are having sex with, that can be a dimension of it, but queer as being about the self that is at odds with everything around it and has to invent and create and find a place to speak and to thrive and to live. (bell hooks, 2015)

„Being at odds“ ließe sich vor dem Hintergrund dieses Textes als Widerstand gegenüber den bestehenden Herrschaftsverhältnissen interpretieren. Betrachtet man die Institution Ballett als eine Entität, als Body, so ist zu fordern, dass dieser Body insofern „queer“ wird, als dass durch normabweichende Grenzüberschreitungen die herrschenden Machtverhältnisse zurückgedrängt werden. Das Ballett würde sich zu einer Kunstform und zu einem Ort verwandeln, in dem keine Repräsentation der heteronormativen, klassistischen und rassistischen Herrschaftsverhältnisse stattfindet. Stattdessen könnte das Ballett eine Kunstform und ein Raum des Selbstausdrucks sein – „When the Body is queer, I feel free“.

[1] Das Ballett wird traditionell in Opernhäusern aufgeführt. Da keine geeignete Studie gefunden werden konnte, die sich explizit auf Ballettbesucher*innen bezieht, und das Publikum aus eigenen Beobachtungen ähnlich erscheint, wird hier eine Studie zu Opernbesucher*innen zitiert.

[2] Nach Bourdieu wird die Klassenstruktur durch die Verteilung der drei Kapitalarten ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital gebildet. Das kulturelle Kapital zeigt sich in drei Formen: institutionalisiert, objektiviert und inkorporiert. Erlernte Fähigkeiten und Wissen zählen zum inkorporierten kulturellen Kapital (Rössel und Hoelscher, 2017, S. 243). Das kulturelle Kapital „ist eine der wirksamsten Waffen, um eine gesellschaftliche Machtposition zu festigen, zu verteidigen oder sich zu erstreiten“ (Lieder, 2020, S. 71), denn die einzelnen Klassen der Gesellschaft stehen nicht allein in einem ökonomischen Klassenkampf, sondern auch in einem symbolischen Klassenkampf“ (Rössel und Hoelscher, 2017, S. 243) in Beziehung zueinander.

[3] In Ballettsälen sind meist Spiegel angebracht, um die Korrekturen der Ballettlehrer*innen besser nachvollziehen und sich selbst bei der Durchführung der Übung beobachten zu können.

Literaturverzeichnis

Bourdieu, P. (2021). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Brandstetter, G. (2014). Tanz. In E. Fischer-Lichte, D. Kolesch, & M. Warstat, Metzler Lexikon der Theatertheorie (S. 327-332). Stuttgart: Metzler.

Dewey, J. (1980). Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Fischer-Lichte, E. (1993). Zwischen Universalismus und Provinzialismus. Kurze Geschichte des deutschen Theaters.Tübingen und Basel: Francke.

hooks, b. (2015). Are You Still a Slave? Liberating the Black Female Body. Abgerufen von: https://www.youtube.com/watch?v=rJk0hNROvzs [Zugriff: 13.05.2022].

I Don't Need a Reason. (4. April 2022). Von Nowness: https://www.nowness.com/series/just-dance/rex-wheeler-lady-camden-ballet abgerufen

Lieder, M. (01 2020). Bourdieu und der Habitus. Philosophie Magazin, S. 68-73.

Rössel, J., & Hoelscher, M. (2017). Wer geht warum in die Oper? Sozialstruktur und Motive eines Opernbesuchs. In Oper, Publikum und Gesellschaft (S. 241-258). Wiesbaden: Springer.

Schlenzka, J. (30. Januar 2019). What Art Spaces Can Learn From Legendary Berlin Nightclub Berghain. Von Frieze Magazine: https://www.frieze.com/article/what-art-spaces-can-learn-legendary-berlin-nightclub-berghain abgerufen

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