Singularisierung oder Pseudo-Individualität: Reckwitz, Adorno und Horkheimer am Beispiel der Musik

Der Mainstream ist die Spitze des Eisbergs der Musik. Ein, im Vergleich zu der Gesamtheit professionell arbeitender Musiker*innen, kleiner Teil mit großer Strahlkraft. Schier endloses Kapital weniger Major Labelswird hier dafür genutzt, wenige Künstler*innen zu absoluten Stars zu machen. Künstler*innen mit riesiger Reichweite und Einfluss, die zum Produkt werden, um große Profite zu erwirtschaften. Dahinter steckt eine Industrie mit großem Profitdruck. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer würden sie Kulturindustrie nennen, dazu aber später mehr.

Auf der anderen Seite befindet sich eine Welt, die abseits vom Mainstream und damit auch abseits vom großen Geld stattfindet. Künstler*innen, die versuchen nicht nach den Regeln der großen Major Labels zu spielen und deshalb ihre Musik selbst produzieren und veröffentlichen. Musik, der das Streben nach Einzigartigkeit innewohnt und die sich durch ästhetische Methoden, aber auch durch ihr Image vom Mainstream abzugrenzen versucht. Die Rede ist von der Welt des Indie; Nischen- und Undergroundmusik, produziert für Liebhaber*innen von weitestgehend unbekannten Musiker*innen. Musik bei der Profitinteresse eine eher untergeordnete Rolle zu spielen scheint.

Zwei Systeme, die sich also zumindest oberflächlich betrachtet klar voneinander abgrenzen. Doch existiert diese Zweiteilung wirklich?

Auch wenn beispielsweise Verkaufszahlen nach wie vor für dieses Bild sprechen – die drei größten Plattenfirmen Universal, Warner und Sony machen zusammen 68% des Marktanteils aus[1] – so lässt sich unter der Oberfläche eine starke Veränderung hin zu einer Singularisierung der Musiklandschaft erkennen. Die großen Labels bestehen mittlerweile aus einer Vielzahl von Sublabels, Indiemusiker*innen erfreuen sich großer Beliebtheit und Musik-Fans teilen sich in unzählige Szenen auf, die vermeintliche Nischenphänomene feiern.

Andreas Reckwitz beschreibt in seinem 2017 erschienenen Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ wie in der Spätmoderne die soziale Logik des Besonderen immer wichtiger wird, während die in der Moderne vorherrschende soziale Logik des Allgemeinen vermehrt in den Hintergrund rückt.[2]

Während in der Moderne also Standardisierungs- und Rationalisierungsprozesse vorherrschend waren, die alle Gesellschaftsbereiche erfasst haben, ist mit Beginn der Spätmoderne in den 1970er und 1980er Jahren das Besondere zum vorherrschenden Narrativ geworden. Die Gesellschaft strebt also nach Einzigartigkeit und Authentizität. Das betrifft die Berufswelt, das Private, die Ökonomie aber auch alle anderen Bereiche der Gesellschaft, wie die Welt der Dinge, Ereignisse und Orte.[3]

Wenn also Singularisierungsprozesse in der Musik stattfinden, wie aufstrebende Indiebewegungen zeigen, wie sind diese dann mit der schier grenzenlosen Macht der Major Labels vereinbar? Anders gefragt: Wie ist Reckwitz soziale Logik des Besonderen innerhalb der Struktur, der von Adorno und Horkheimer postulierten Kulturindustrie, möglich?

Im Folgenden soll am Beispiel der Musik diskutiert werden, wie sich Reckwitz Singularisierungsthese, beziehungsweise die von dem Soziologen beschriebene „Kulturmaschine“ mit Adornos und Horkheimers „Kulturindustrie“ und der damit verbundenen Pseudo-Individualität vertragen. Zusammengefasst soll die Frage beantwortet werden, inwiefern Singularisierung der Musik innerhalb der profitorientierten Kulturindustrie funktionieren kann.

Hierbei soll es nicht darum gehen einem der Theoretiker zu widersprechen, sondern darum, die sich oberflächlich widersprechenden Theorien zu diskutieren. Ziel ist es Lösungswege zu finden, beide Theorien zusammen zu verwenden und daraus eine offene Perspektive zu schaffen, die produktiv und relevant sein kann.

Auch wenn Reckwitz speziell von der Spätmoderne spricht und den Beginn dieser in den späten 1970ern verortet, während Adorno und Horkheimer ihren Aufsatz in den 1940er Jahren verfassten, ist davon auszugehen, dass letztere die von Reckwitz beschriebenen Singularisierungsprozesse als Teil der im Folgenden weiter ausgeführten Kulturindustrie verstanden hätten. Im Übrigen geht auch Andreas Reckwitz selber davon aus, wie er in einem Interview mit dem SWR bekundet hat, weshalb er sein Verhältnis zu Adorno als „ambivalent“ beschreibt.[4]

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer veröffentlichten 1944 die erste Auflage ihres Bandes „Dialektik der Aufklärung“ in dem der Aufsatz „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“ bis heute wohl der meist diskutierte ist. Sie ersetzen hierbei den Begriff der „Massenkultur“ durch Kulturindustrie. Diese definiert sich dadurch, dass sie Kultur als Ware begreift, was wiederum die Kultur verändert. Die Kulturindustrie unterwirft sämtliche kulturelle Güter unter das Diktat der Ökonomie, was den Verlust des autonomen Charakters kultureller Güter nach sich gezogen hat. Dies bedeutet genauer, dass alles was anders ist oder heraussticht von der Kulturindustrie eliminiert wird. Übrig bleibt ein Hauptanteil kulturindustrieller Waren, die nur pseudo-individuell und trotzdem gleichgeschaltet sind und deren Wert sich aus dem mit ihnen zu erzielendem Profit ergibt. Kultur in der Kulturindustrie dient demnach statt dem Selbstzweck, nur noch der Unterhaltung.[5] Dem gegenüber steht die nur noch bruchstückhaft erhaltene authentische Kultur, die sich diesen Zwängen entzieht und autonom funktioniert.
Während Reckwitz also von Singularisierung und der sozialen Logik des Besonderen spricht, sind bei Adorno und Horkheimer kulturelle Erzeugnisse in der Kulturindustrie einzig und allein Waren, was ihnen jegliche Autonomie raubt und sie gleichschaltet. Reckwitz macht deutlich, dass die digitale Technologie eine Singularisierung des Sozialen, der Subjekte und Objekte forciert.[6] Durch das Aufkommen von Musikbearbeitungsprogrammen und dem einfachen Zugang zu Distributions- und Promotionskanälen durch Streamingplattformen und Social Media gab es in den letzten zwanzig Jahren einen großen Aufschwung neuer Künstler*innen, die ihre Karriere selbst in die Hand nehmen, ihre eigene Musik produzieren und diese auch veröffentlichen. Hier gibt es also einen Wandel, von dem man zunächst denken könnte, dass dieser Plattenfirmen und speziell Major Labels überflüssig macht. Doch wie die bereits erwähnten Zahlen beweisen, ist dies keineswegs der Fall.

Mit Horkheimer und Adornos Kulturindustrie kann argumentiert werden, dass dies daran liegt, dass Massenkultur nur unter einem Monopol möglich ist. Die Kulturindustrie ist totalitär und bestimmt den Inhalt. Die von Reckwitz aufgezeigten Singularisierungsprozesse wären damit nur Pseudo-Individualisierungen; erfunden um die standardisierte Kunst besser und breiter vermarkten zu können.[7] Die Kulturindustrie vermischt dabei Kultur und Amüsement, was Konsument*innen ohnmächtig macht und jede Subversion verhindert.[8]

Horkheimer und Adorno wählen also einen eher kulturpessimistischen Weg und bezeichnen jegliche Kunst unter der Herrschaft der Kulturindustrie als bloße Ware, die keinen autonomen Charakter mehr besitzt. Kulturelle Erzeugnisse werden demnach gleichgeschaltet und Details werden fungibel. Vielmehr wird alles ausgelöscht was abweicht und anders ist.[9] Dies bedeutet umgekehrt aber auch, dass durch die Auslöschung von allem andersartigen, Ideologie von innen beliebig reproduziert werden kann. Es kann also auch etwas als besonders deklariert werden, wenn es eigentlich nichts Besonderes mehr gibt. Hierfür verwendet speziell Adorno den Begriff der Pseudo-Individualität. Vor allem in der Musik bedeutet das, dass Werke, die eigentlich von Standardisierung betroffen sind, nach außen hin den Anschein der Individualität wahren müssen, um Auswahlmöglichkeiten und damit Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen.[10]

Reckwitz macht schon relativ zu Anfang seines Buches deutlich, dass diese Haltung der Entlarvung, wie sie von der Kulturkritik um Adorno und Horkheimer bekannt ist, nicht Teil der Analyse der sozialen Logik von Singularitäten ist.[11] Eine weltbekannte Künstlerin, wie zum Beispiel Billie Eillish, würde demnach von Kulturkritiker*innen, die eben diesen Entlarvungsreduktionismus betreiben, als nur vermeintlich einzigartig und stattdessen als weiterer Typus des Allgemeinen, beziehungsweise der Kulturindustrie dargestellt werden. Ihre Musik würde dann als nur oberflächlich besonders bezeichnet werden, hinter dieser Fassade aber eher zu einem konformistischen Durchschnittstypus gehören.

So relevant diese Perspektive ist – große Teile der Frankfurter Schule, besonders aber Adorno und Horkheimer wählen sie, um das Profitinteresse der Kulturindustrie und damit die Kunst als unfrei zu entlarven –, sie beweist keineswegs das Fehlen einer sozialen Logik des Besonderen. Denn wie Reckwitz schreibt: „Indem die soziale Welt sich zunehmend an Menschen, Gegenständen, Bildern, Gruppen, Orten und Ereignissen ausrichtet, die sie als singulär begreift und empfindet, ja diese teilweise gezielt als solche hervorbringt, entfaltet die soziale Logik der Singularitäten für ihre Teilnehmer eine Realität mit erheblichen, sogar unerbittlichen Konsequenzen.“[12]

Natürlich lässt sich auch Besonderes als Teil eines Allgemeinen verstehen. Trotzdem kann man diesen Dingen nicht die soziale Realität absprechen, dass Menschen sie als besonders definieren. Wenn Menschen die Musik von Billie Eillish oder auch ihre Person als besonders definieren, hat dies reale Konsequenzen.

Singularisierung findet also statt und dabei ist zweitrangig, ob Billie Eillish nun bei einem großen Label unter Vertrag ist, oder sich von anderen Popstars inspirieren lässt.

Von außen betrachtet scheint es jedoch trotzdem eine allgemeine Abneigung von Seiten junger Künstler*innen gegen große Plattenfirmen zu geben, da diese aus Profitdruck Musik standardisieren und somit Künstler*innen die musikalische Freiheit und Einzigartigkeit nehmen. Unter anderem deshalb entstehen zum Beispiel immer mehr kleine, semi-erfolgreiche Plattenlabels. Darüber hinaus sind auch Begriffe wie „Indie“ und „Underground“ zu positiv besetzten Schlagwörtern geworden, mit denen sich Künstler*innen unterschiedlichster Genres schmücken.

Es herrscht hier also ein Künstler*innenethos, der eindeutig nach einer authentischen Kunst als Selbstzweck strebt. Zudem werden innerhalb des popmusikalischen Gefilde kapitalismuskritische und kulturpessimistische Thesen Horkheimers und Adornos vertreten, die sich aus der Abgrenzung zum gleichmachenden Mainstream ergeben. Diese Haltung entsteht aus einer Opposition gegenüber großen Plattenlabels, denen aufgrund ihres Profitinteresses und der daraus folgenden Gleichschaltung der Musik, nicht mehr vertraut wird. Künstler*innen sind sich ihrer Stellung innerhalb der Kulturindustrie und dem Verschwinden von Authentizität somit immer mehr bewusst und versuchen auszubrechen. Auch wenn Horkheimer und Adorno diesen Wunsch nach Authentizität wohl als nicht erfüllt und im Gegenteil als Pseudo-Individualität verstehen würden, so sind sie doch soziale Realität. Eine soziale Realität, die von Reckwitz sozialer Logik des Besonderen gestützt wird.

Es existieren also auf den ersten Blick zwei gegenläufige Bewegungen. Auf der einen Seite stehen die Künstler*innen, die unter einer Art Avantgardismuszwang stehen. Künstler*innen müssen demnach nach Reckwitz’ Theorie besonders sein, damit sie im Kampf um Valorisierung zu bestehen. Im breiten Feld der Kunst war dies natürlich schon immer der Fall, doch mit der Spätmoderne existiert ein Künstler*innenethos, der junge Künstler*innen noch viel mehr zwingt herauszustechen als zuvor. Dies liegt an Technologien, wie dem Internet und insbesondere Social-Media-Plattformen, die zu einer Aufmerksamkeitsökonomie geführt haben. Hier existiert, angetrieben von wenigen großen Techgiganten, ein regelrechter Singularisierungszwang. Wer bestehen will muss herausstechen und gleichzeitig den Massengeschmack treffen. Musik und Musiker*innen müssen also immer besonders sein. Nur was sich für die Konsument*innen anders anfühlt als der Rest, kann sich durchsetzen.

Auf der anderen Seite werden die Major Labels immer mächtiger, inkorporieren einen Großteil des Musikmarktes und fördern ebenfalls „Besonderheiten“. Hier könnte man mit Adornos „On Popular Music“ von Pseudo-Individualität sprechen.[13] Die Künstler*innen geben, angetrieben von der Kulturindustrie, den Konsument*innen und sich selbst, vor herauszustechen, wenn sie doch eigentlich Teil des ewig gleichen Angebots von massentauglicher, profitorientierter Musik sind.

Bei Beobachtung der Plattenlabels fällt auf, dass hier häufig eher Rationalisierungsprozesse eintreten. Gleichschaltung findet offensichtlich statt. Es gibt ganz klare Rezepte für Popmusik, die von den Plattenfirmen sträflich eingehalten werden. Dies bedeutet zum Beispiel, dass Popsongs heute schon in den ersten 30 Sekunden vieles, aber noch nicht alles, vom Song verraten müssen. Das liegt daran, dass Klickzahlen bei Spotify erst ab der 30. Sekunde gezählt werden. Plattenfirmen produzieren die Songs also so, dass der*die Hörer*in direkt den ersten 30 Sekunden, zum Beispiel durch die Verwendung eines sogenannten „Pop-Drops“, am musikalischen Ball gehalten wird.[14]

Ein weiteres Beispiel ist die Social-Media-Plattform TikTok. Hier werden häufig Tanzchoreografien in kurzen Videoclips vor eingängiger Hintergrundmusik vorgeführt. Diese Videos sind oft nur 15 Sekunden lang, was zu einer Veränderung der Songstruktur vieler moderner Popsongs geführt hat, wie zum Beispiel die Verwendung eines 11-Sekündigen Intro mit anschließendem 4-Sekündigen Höhepunkt.[15] Häufig werden auch gleich die Tanzschritte für das Video im Songtext untergebracht.

An dieser Stelle sind also technische Rationalisierungsprozesse im Gange, die zu einer Gleichschaltung der Musik führen. Reckwitz macht jedoch deutlich, dass hinter Singularisierungsbewegungen sehr häufig Verfahren der Standardisierung stehen, die aber als Hintergrundstruktur für die Fabrikation von Singularitäten dienen. Die Logik des Allgemeinen dient damit also der Infrastruktur und erhält somit einen instrumentellen Stellenwert. Sie ist eine Funktion der (maschinellen und kulturellen) Singularisierung und der Etablierung einer globalen Kulturmaschine.[16] Rationalisierte Hintergrundprozesse, wie die zuvor genannten Musik-Rezepte, sind also dafür zuständig das Besondere herausstechen zu lassen. Es entsteht das System der Kulturmaschine, welches zum Ziel hat, einzigartige kulturelle Phänomene zu erzeugen.

Dieser Punkt ist entscheidend, denn er lässt sich wunderbar mit der Meta-Perspektive von Adorno und Horkheimer vereinen. Auch diese sehen das (kapitalistische) System als Ganzes und machen deutlich, dass alles was im Vordergrund passiert von den Hintergrundstrukturen bestimmt wird. Wenn also Musiker*innen Musik machen, die nichts Eigenes hat, der das Moment der Fantasie fehlt, dann liegt das an der im Hintergrund operierenden Produktionsweise der Kulturindustrie. Diese Auffassung basiert auf dem Denken von Karl Marx und Friedrich Engels, die mit ihrem materialistischen Bild von Basis und Überbau deutlich machten, dass die ökonomischen Beziehungen und die wirtschaftliche Struktur, kurz die Produktionsbedingungen innerhalb einer Gesellschaft, die Basis für alles bilden, was den Staat und die herrschenden Vorstellungen einer Gesellschaft ausmachen. Dazu gehören demnach Dinge wie der Staat, die Religion, die Wissenschaft, aber eben auch die Denkweise und die Kunst einer Gesellschaft.[17] [18]

Die Kunst ist also abhängig von ihren ökonomischen Bedingungen und die Kulturindustrie beschreibt genau dies. Selbst wenn also eine Singularisierung stattfindet, dann kann sie das nur innerhalb der vom Kapitalismus aufgestellten Grenzen.

Während bei Horkheimer und Adorno also das Profitinteresse im Vordergrund steht, geht es bei Reckwitz weiterhin darum, nach Besonderheit zu streben, was allerdings von gesellschaftlicher Valorisierung angetrieben wird, die wiederum in einem zweiten Schritt ebenfalls zu Profit wird.

Auch wenn hier also zwei Perspektiven aufeinandertreffen, die sich widersprechen, können sie unter bestimmten Voraussetzungen zusammen funktionieren und ein größeres Bild unserer Gesellschaft zeichnen.

Die von Reckwitz postulierte Kulturmaschine scheint klare Überschneidungen mit der Kulturindustrie zu haben. Beide Konzepte bieten quasi die Hintergrundstruktur für eine im Vordergrund stattfinden Kultur. Dies ist ein entscheidender Punkt für die Diskussion. Die Kunst ist, wie hier deutlich wird, für beide Theorien systemimmanent und wird gesteuert. Die Prozesse, die im Vordergrund stattfinden, werden bei Reckwitz durch den Singularisierungsdruck bestimmt und bei Adorno und Horkheimer durch den Profitzwang. Doch auch diese sind problemlos miteinander vereinbar und widersprechen sich nicht. So kann das Streben nach Einzigartigkeit vom Profitinteresse angetrieben werden und andersherum.

Letztlich leben wir in einer Diktatur des Profits und der Zahlen. Zwar existiert eine soziale Logik der Singularitäten, diese wird jedoch vom Kapitalismus inkorporiert. Wenn Plattenfirmen erkennen, dass ein bestimmtes Rezept funktioniert, ob es nun das Rezept der Außergewöhnlichkeit oder das Rezept der Gleichschaltung ist, dann werden sie dieses Rezept nutzen, um Profite zu generieren.

Durch die massenhafte Verwendung dieser Rezepte wiederum, werden Trends geschürt und das Verhalten der Konsumierenden verändert. Es herrscht also eine gegenseitige Beeinflussung. Durch die spätmoderne Gesellschaft der Singularitäten wird also auch die Kulturindustrie dazu gezwungen das „Besondere“ in den Fokus zu stellen; es zur Ware zu machen. Dieses „Besondere“ wiederum verändert sich durch dessen Warencharakter in der Kulturindustrie. Sobald das „Besondere“ offensichtlich Teil einer großen Maschine wird, verliert es seine Authentizität, also das was es besonders macht. Deshalb werden immer neue Trends erfunden und die Avantgarde dient der Kulturindustrie als ständiger Ideengeber. Immer schneller müssen neue Trends, neue Hypes aufgespürt, adaptiert und inkorporiert werden, um Konsument*innen weiterhin das „Besondere“ bieten zu können. Underground und Indie sind nicht nur Künstler*innennarrative sondern auch Verkaufsargumente.

Nachfrage und Angebot bestimmen sich hier gegenseitig. Die Kulturindustrie verwendet Nischenphänomene aus der Avantgarde oder dem Indiebereich und macht sie zu massentauglichen Trends. Doch grade die Musikindustrie weiß um die verschiedenen Geschmäcker und auch um den Singularisierungswillen der Konsument*innen und kreiert im Austausch mit tatsächlichen Indiephänomenen so nicht nur einen Mainstream, sondern unzählige Sublabels, Subgenres und letztendlich unterschiedlichste Identifizierungsmöglichkeiten für alle Geschmacksrichtungen. Die Avantgarde, oder auch die von Adorno und Horkheimer als authentische Kultur bezeichnete Kunst, die vielleicht nicht frei, aber doch weniger von Profitzwang geprägt ist, führt diese Bewegung an und beeinflusst die Kulturindustrie, wird aber gleichzeitig von ihr beeinflusst. Denn wie angedeutet, ist eine vollständige Befreiung von Profitzwang kaum möglich und auch ein Indie Label arbeitet selbstverständlich für Profit. Wie anfänglich beschrieben wird die Macht der Plattenindustrie aber weiterhin größer, was durch eben diese Inkorporierungen passiert.

So entsteht ein Flickenteppich, der jeden Geschmack trifft. Dass dies maßgeblich aus Profitzwang passiert ist klar, gleichzeitig kann aber auch nicht geleugnet werden, dass die von Reckwitz postulierten Singularisierungen stattfinden.

Vielleicht gibt es mit Reckwitz Singularisierungsthese eine (romantische) Bewegung hin zu einer authentischen Kultur, die allerdings wegen dem Profitzwang nie zu hundert Prozent entstehen kann und deshalb von der Industrie inkorporiert wird. Dies wiederum führt zu einer Pseudo-Individualität auf der Meta-Ebene. Die Singularisierungsprozesse finden jedoch trotzdem statt und haben reale Folgen für das Feld der Kunst, welche aus kultursoziologischer Sicht natürlich von hoher Forschungsrelevanz sind.

 

Literatur

Adorno, Theodor W., On Popular Music, Studies in Philosophy and Social Sience, New York, 1941.

Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten, Suhrkamp, Berlin, 2017.

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer Verlag, Frankfurt a.M, 24. Auflage, 2019.

Marx, Karl; Engels, Friedrich: MEW, Bd. 19, Karl Dietz Verlag, Berlin, 9. Auflage, 1987.

Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie in MEW, Bd.13, Karl Dietz Verlag, Berlin, 1859.

Internetquellen

Herbstreuth, Mike, Wie TikTok die Musikindustrie verändert in Deutschlandfunk, 23.05.2020, URL: https://www.deutschlandfunk.de/social-media-wie-tiktok-die-musikindustrie-veraendert.807.de.html?dram:article_id=477229, aufgerufen am 24.03.2021.

Kevdes, Jan, 30 Sekunden, die den Pop verändern in Süddeutsche Zeitung, 04.11.2017, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/musik-streaming-30-sekunden-die-den-pop-veraendern-1.3734114, aufgerufen am 24.03.2021.

Statista, Marktanteile der größten Plattenfirmen weltweit in den Jahren 2011 bis 2019, 2020. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/224077/umfrage/marktanteile-der-groessten-plattenfirmen-weltweit/ zuletzt aufgerufen: 05.05.2021.

SWR2 Wissen: Aula, Das Profil zählt - Die Gesellschaft der Einzigartigen - Gespräch mit Andreas Reckwitz, Redaktion: Ralf Caspary, 2019. URL: https://www.swr.de/swr2/programm/download-swr-14180.pdf aufgerufen am 02.04.2021.

[1] Vgl. Statista, Marktanteile der größten Plattenfirmen weltweit in den Jahren 2011 bis 2019, 2020. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/224077/umfrage/marktanteile-der-groessten-plattenfirmen-weltweit/ zuletzt aufgerufen: 05.05.2021.

[2] Vgl. Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten, Suhrkamp, Berlin, 2017, S. 9 ff.

[3] Vgl. Ebd.

[4] Vgl. SWR2 Wissen: Aula, Das Profil zählt - Die Gesellschaft der Einzigartigen - Gespräch mit Andreas Reckwitz, Redaktion: Ralf Caspary, 2019. URL: https://www.swr.de/swr2/programm/download-swr-14180.pdf aufgerufen am 02.04.2021.

[5] Vgl. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer Verlag, Frankfurt a.M, 24. Auflage, 2019, S 128ff.

[6] Vgl. Reckwitz, 2017. S. 226.

[7] Vgl. Adorno, Theodor W., On Popular Music, Studies in Philosophy and Social Sience, New York, 1941, S. 307 ff.

[8] Vgl. Horkheimer; Adorno, 1969, S 152f.

[9] Vgl. Horkheimer; Adorno, 1969 S 131 ff.

[10] Vgl. Adorno, 1941, S. 307 ff.

[11] Vgl. Reckwitz, 2017, S. 13 f.

[12] Ebd. S. 14.

[13] Vgl. Adorno, 1941, S. 307 ff.

[14] Vgl. Kevdes, Jan, 30 Sekunden, die den Pop verändern in Süddeutsche Zeitung, 04.11.2017, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/musik-streaming-30-sekunden-die-den-pop-veraendern-1.3734114, aufgerufen am 24.03.2021.

[15] Vgl. Herbstreuth, Mike, Wie TikTok die Musikindustrie verändert in Deutschlandfunk, 23.05.2020, URL: https://www.deutschlandfunk.de/social-media-wie-tiktok-die-musikindustrie-veraendert.807.de.html?dram:article_id=477229, aufgerufen am 24.03.2021.

[16] Vgl. Reckwitz, 2017, S. 229.

[17] Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich: MEW, Bd. 19, Karl Dietz Verlag, Berlin, 9. Auflage, 1989, S. 335.

[18] Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie in MEW, Bd.13, Karl Dietz Verlag, Berlin, 1859, S. 8.

 

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