Essen und Bilder: Von der Höhlenmalerei bis Social-Media (und zurück?)
Essen und Bilder sind seit dem Anfang der Geschichte miteinander verflochten. Als die Menschen sich vom Jagen und Sammeln ernährten, zeichneten sie mit natürlichen Farben Jagdszenen an die Wände ihrer Höhlen-Gemächer. Um die mineralischen Pigmente zu binden, nutzten sie Pflanzensaft und das Fett oder Blut ihrer Jagdbeute – ohne Essen, keine Bilder. Und ohne Bilder, kein Essen: Einige Theorien gehen von einer spirituellen Bedeutung der Bilder aus. Sie halfen den Schaman*innen, mit dem Geist der Tiere in Verbindung zu treten und sicherten so die Wiederkehr der Herden. Andere Theorien sehen in Höhlenmalereien kommunikative Zeichen, mit denen die frühen Gesellschaften Informationen über Jagdgründe und Tiermigration austauschten. Ob spirituelle Praxis oder Kommunikationsmittel, Höhlenmalereien sind eines der ersten kulturellen Artefakte der Menschen. Das Medium des Bildes ist also seit jeher mit der Praxis des Essens verbunden. Diese Verbindung soll im vorliegenden Text produktiv gemacht werden, um Bilder von Essen zum Sprechen zu bringen.
In diesem Essay wird aber vor allem auf aktuelle Beispiele geschaut. Dabei steht die Frage nach dem jeweiligen Kontext der Bilder im Vordergrund. Einerseits haben sich die Methoden zur Herstellung von Bildern drastisch verändert. Auch ihre Bedeutung unterliegt einer Transformation. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen das eigene Überleben durch die Informationen bzw. spirituelle Kraft der Bilder gesichert wurde. Heute erzählen uns die Bilder von Essen weniger über das Essen bzw. dessen Gewinnung selbst und mehr über die Personen, die sie anfertigen und teilen. Abbildungen von Nahrungsmitteln oder Gerichten dienen als Selbstausdruck, oder zu Werbezwecken. Anstatt in einer Höhle, finden wir sie im TV, auf Plakatwänden oder Social-Media-Plattformen. Dort präsentieren sie einer unbegrenzten Anzahl von Menschen ihre Botschaft. Und natürlich verändert sich auch das Essen selbst. In westlichen Gesellschaften ist der Hunger größtenteils überwunden und ein Überfluss an Nahrung verstärkt Diskurse über gesunde, vegane oder klimaschonende Ernährung.
Als erstes untersucht dieser Essay die Essensfotografie auf Social-Media im Hinblick auf ihre sozialen Funktionen und analysiert gleichsam die Rolle ihrer Plattformen. Die von Marie Schröer identifizierten vier Facetten der Bilder von Essen in den sozialen Medien liefern hierfür die Basis, abgerundet mit Einsichten von Jenny L. Herman und Elliot Gaines. Außerdem wird Roland Barthes Differenzierung zwischen der Fotografie und der Zeichnung, die der französische Semiotiker in „Die Rhetorik des Bildes“ vollzieht, eine Krise der zeitgenössischen Werbefotografie aufzeigen. Indem wir ihre Motive, Techniken und Verbreitungspraktiken untersuchen, werden Bilder von Essen zu einer Art Meta-Medium, mit dem wir zu der und über die Gesellschaft sprechen. So können abschließend einige Gedanken zur Gegenwart und Zukunft dieser Gesellschaft formuliert werden. Aber bevor wir erkennen können, welche Bedeutungen Bilder von Essen tragen, muss die begriffliche Basis geschaffen werden: Was ist Essen und was ist ein Bild?
Essen und Bild – eine unvermeidbare Partnerschaft?
Essen ist mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Diesen Satz liest man in der einen oder anderen Form so häufig in Literatur zur Kulturpraxis Essen, dass eine Zitation unmöglich ist und er fast zur Plattitüde verkommt. Das mindert aber kaum seinen Wahrheitsgehalt. Essen ist untrennbar mit der kulturellen Entwicklung des Menschen verbunden. So schreibt Anne Rose-Meyer, das gemeinsame Jagen, Sammeln und Garen von Essen seien wichtige Bedingungen für die Entstehung der ersten menschlichen Gesellschaften: „Individuum und Gesellschaft sind demzufolge seit alters über das Essen aufs Engste miteinander verknüpft.“ Auch die Entstehung von kollektiven Identitäten sei massiv von klimatischen Gegebenheiten beeinflusst, welche die eine oder andere Form der Landwirtschaft und schließlich eine Ess-Kultur ermöglichen - der Mensch ist, was er isst. Eine individuelle Komponente kommt hinzu, wenn die Rolle der Vorfahren bei der Nahrungsproduktion heute zum Nachnamen geworden ist. Auch wenn die Müllers, Meyers, Bäckers, Metzgers oder Kochs heute ganz anderen Professionen nachgehen, haben sich ihre Vorfahren durch diese Berufe identifizierbar gemacht.
Im Spätkapitalismus ist eine zu starke Identifikation mit der Arbeit Symptom einer unausgewogenen Work-Life-Balance. Um das Eigene zu finden oder sich selbst zu beschreiben, können andere Begriffe aus dem Kosmos der Nahrungsmittelaufnahme genutzt werden. Ich lebe vegan, bin Fleischesser(*in) oder achte auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Diese Selbst- und Fremdzuschreibungen sind eine Mischung aus Geschmack und Lebenseinstellung. Pierre Bourdieu sprach vom „Geschmack als Natur gewordene, d. h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse.“ Bevorzugte Nahrungsmittel und Zubereitungsformen, wer das Essen zubereitet, die Rolle von Tischsitten, die an das Essen gestellten Erwartungen (Sättigung/Kräftigung vs. Gesundheit) und somit der essende und durchs Essen geformte Körper sind für Bourdieu ein Marker der sozialen Prägung des Individuums. Für ihn ist der Geschmack also die Folge der sozialen Verortung. Ganz so einfach ist es heute selbstredend nicht. Geschmack sollte eher als ein Ausdruck der persönlichen Identität verstanden werden. Doch Überreste des Bourdieuschen Modells sind erkennbar, wenn z. B. Altkanzler Schröder von der Currywurst als „Kraftriegel des Facharbeiters und der Facharbeiterin“ spricht.
Essen ist also eine physiologische Notwendigkeit, ein sozialer Akt, eine Ausdrucksform für Identitäten und eng mit der Menschheitsgeschichte verflochten. So gelingt es Gunther Hirschfelder, Entwicklungslinien der Esskultur in ihren stofflichen, alltagskulturellen und politischen Bezügen mit historischen Ereignissen zu verknüpfen. Veränderungen in der Ernährung (bzw. Sättigungsgrad) der Bevölkerung seien demnach entscheidende Faktoren für Aufklärung, Kolonialismus oder Revolutionen. In diesem Verständnis könnte vom Essen als Conditio Humana gesprochen werden – bewusstes Essen als Zeichen des Bewusstseins. Was die Menschen ebenso auszeichnet, sind ihre besonderen Kommunikationsmittel. Wir sprechen, halten unsere Gedanken mittels einer Schrift fest, verschicken Briefe oder Chat-Nachrichten und erschaffen Bilder. Letztere sind nach Roland Barthes ein besonders mächtiges Mittel der Kommunikation. In „Die Rhetorik des Bildes“ widmet er sich der Suche nach dem Sinn im Bild, indem er Werbebilder für Essen untersucht.
Dabei unterscheidet Barthes drei Botschaften im Bild. Eine sprachliche Botschaft diene zur Verankerung in einen bestimmten Interpretationsrahmen und erfülle eine Relaisfunktion, also die Ergänzung der bildlichen Codes und Zeichen. Hinzu komme eine denotierte bildliche Botschaft, die auch als buchstäbliche Botschaft bezeichnet werden kann. Eine knallrote Tomate ist auf dieser Ebene eine Frucht ohne Makel, aber nur eine Tomate. Erst auf der Ebene der symbolischen oder konnotierten Botschaft wird daraus ein sonnengereifter Leckerbissen, der Erinnerungen an den letzten Italien-Urlaub hervorruft. Im Ensemble mit Spaghetti, Basilikum und Parmesankäse angeordnet, naturalisiert sich dieses Verständnis, die Assoziation mit Italien wirkt authentisch. Auch wenn es sich beim Produkt um Dosenfraß handelt, so wie in Barthes Beispiel, denken Rezipierende an schmackhafte italienische Pasta, ohne dass irgendwo eine Herkunftsbezeichnung benötigt würde. Anders gesagt: „Das Syntagma der denotierten Botschaft naturalisiert das System der konnotierten.“
So kommt die Rhetorik ins Bild. In der Kombination aus den drei Botschaften können Bilder Ideologien oder Wertvorstellungen transportieren. Das perfide an dieser Art der Kommunikation ist, dass die Botschaft erst mit der Interpretation entsteht. Es erinnert an Schrödingers Katze: Was das Bild bedeutet, kann erst dann mit Sicherheit festgestellt werden, wenn das Individuum es ansieht. Aber im Unterschied zum Gedankenexperiment des Physikers kann ein Bild so gestaltet werden, dass eine bestimmte Interpretation im antizipierten Kontext wahrscheinlicher wird. Bilder sind demnach mächtige Kommunikationswerkzeuge und Bedeutungsmaschinen.
Das erklärt die fast zwangsläufige Verbindung von Essen und Bild. Es handelt sich um zwei Besonderheiten und Existenzbedingungen des Menschen, die eine Symbiose eingehen: Alle Lebewesen essen und kommunizieren, aber nur die Menschen haben eine Ess-Kultur und (Bild-)Sprache entwickelt. Nur sie können Bilder von Essen anfertigen und mit ihnen auf globaler Ebene zueinander sprechen. Mit diesem Verständnis von Essen als kulturelle Praxis, welche zwischen Folge und Bedingung der menschlichen Entwicklung oszilliert, und dem Bild als mächtigen Kommunikationsmittel, das ebenso manipulativ wie empowerend sein kann, binden wir uns die sprichwörtliche Schürze um und beginnen mit der Analyse.
Ausdruck & Vernetzung des digitalen Selbst: Bilder von Essen auf Social-Media
Den Menschen steht heute mit Social-Media eine ungekannt mächtige Kommunikationsplattform zur Verfügung. Bilder von Essen machen dabei einen nicht unerheblichen Anteil des Contents auf Plattformen wie Instagram oder TikTok aus. Über 300 Millionen Posts gibt es auf Instagram allein unter der Kategorie “#foodporn”. Es scheint also ein Bedürfnis unter User*innen zu geben, ihr selbstgekochtes oder im Restaurant erworbenes Essen mit anderen zu teilen.
Marie Schröer widmet sich diesem Thema und identifiziert vier Funktionen, welche die Speisefotografie auf sozialen Medien erfüllen kann. Als Erstes nennt Schröer die Darstellung von Körper und Persönlichkeit. So eigneten sich Bilder von Essen hervorragend dazu, Aspekte der eigenen Identität zur Schau zu stellen. Detailreichtum und kommunikative Mittel der Plattformen (Bild, Videos, Text, Hashtags, Orte etc.) seien ein perfektes Medium für individuelle wie professionelle Selbstdarstellung. Aber auch Zugehörigkeit zu einer kollektiven, bspw. nationalen oder religiösen Identität ließe sich so abbilden. Mit dem Designen und Inszenieren von Essen erfülle die Essensfotografie auf Social-Media eine zweite Funktion. Einerseits könnten die CreatorErsteller*innen so die eigenen Fähigkeiten präsentieren. Andererseits würde damit das Essen, begriffen als multisensorisches Erlebnis, intensiviert werden – das Auge isst mit. Die dritte Funktion der Speisefotografie auf Social-Media zielt eher auf eine Vernetzung der User*innen ab. Am Beispiel des Sauerteig-Trends während der ersten Corona-Lockdowns identifiziert Schröer die sozialen Medien als Ersatzort für den sozialen Faktor des Essens. Dazu komme viertens, dass durch das Teilen mit Anderen sogenannte Guilty Pleasures, etwa der Genuss besonders ungesunder und fetttriefender Speisen, enttabuisiert würden. Damit ist der Bogen zur Selbstdarstellung geschlagen: Burger-Bilder als Antithese zum Gesundheitstrend.
User*innen nutzen die Rhetorik der Bilder (und Plattformen), um komplexe Botschaften über ihr Selbst zu versenden. Plattformen wie Instagram verstärken mit ihren mannigfaltigen Funktionen die von Barthes beschriebenen Sinnstrukturen des Bildes. Selbstzuschreibungen wie „Ich lebe vegan“ oder „Ich mache, was ich will“ werden durch die Verlinkung von Bild, Motiven, Perspektiven, Orten, Hashtags und Markierungen naturalisiert. Allerdings, so Jenny L. Hermann, gerate so auch die eigentliche Nahrungsaufnahme in den Hintergrund: „Although this phenomenon connects strangers and strengthens new social ties, it paradoxically also pushes the culinary world to a visual space beyond the act of eating.“ Auf ähnliche Weise beschreibt Elliot Gaines den Effekt von kommunikativen Medien als eine sich verschleiernde Erweiterung des Selbst. So entstünden auch neue Bedeutungen und Zeichen, mit denen wir einem virtuellen Publikum unser durch Hashtags und Likes kodiertes, digitales Selbst zeigen. Allerdings nehme das Bewusstsein dafür ab, dass diese Zeichen eben nur in Verbindung mit dem Medium ihre Bedeutung erhalten. Mit der allumfassenden Nutzung der sozialen Medien, so Gaines, entstehe eine supra-subjektive Gemeinschaft, an deren Praktiken und Codes sich das Individuum und das Selbst anpasse – Neue Medien als „means of assimilation“?
Bilder von Essen auf Social-Media müssen also ambivalent betrachtet werden. Auf der einen Seite dienen sie als Mittel, um das Eigene auszuformulieren und es in eine digitale Welt zu projizieren. In der Masse der Posts können sie eine demokratische Form der Artikulation von öffentlichem Interesse sein (an veganen Produkten, an Beschäftigungsformen während Lockdowns oder dem Ausbrechen aus einem faden Alltag durch sündhaften Genuss). Andererseits lässt sich argumentieren, dass sie User*innen vom eigentlichen Essen (bzw. Schmecken) entfremden. Das Eigene verkommt durch diese Methode der Präsentation und ihre immergleichen Codes und Zeichen zum Einheitsbrei – wie viel Individualität besteht, wenn alle Angehörigen einer bestimmten Interessengruppe dasselbe Restaurant, Gericht oder Super-Food zeigen, wenn ein Food-Trend Millionen von Posts generiert? Besonders wenn solche Trends durch geschicktes Influencer-Marketing gestreut werden, bekommt die Essensfotografie in sozialen Medien den bitteren Beigeschmack von viralem Marketing.
Das gezeichnete Bild: Essen & Werbefotografie
Insbesondere für Marken, die Zielgruppen innerhalb der Genartion-Z und -Y ausmachen, ist diese Strategie interessant. Beim aufmerksamen Streifen durch Berlin fällt auf, dass Werbeplakate, die für Firmen oder Produkte im Essenskontext werben, sehr Fast Food oder sehr fleischlastig sind. Außer großen Marken wie „Oatly“ lassen sich wenig vegane oder grüne Produkte finden. Dafür empfiehlt Instagram Conscious-Eating-Content und im Feed finden sich immer wieder Kooperationen abonnierter Konten mit veganen oder klimafreundlichen Food-Brands. Klassische Methoden, um Essen durch Bilder zu bewerben, funktionieren nur noch eingeschränkt und keinesfalls für alle Zielgruppen gleichermaßen. Das stellt die Werbeindustrie vor Probleme – Bilder von Essen als Zeichen eines sich wandelnden Kapitalismus.
Bereits die klassische Essenswerbung greift tief in die semiotische Trickkiste, um potenziellen Kund*innen ihre Produkte schmackhaft zu machen, ohne den Geschmack transportieren zu können. Zur Dekonstruktion dieser Tricks können wir auf Barthes zurückgreifen. Denn in der Werbefotografie werden wortwörtlich die Buchstaben der buchstäblichen Botschaft manipuliert. In seinen Ausführungen zum Denotierten Bild differenziert Barthes die Zeichnung und das Foto als Abbilder von Dingen mit stark divergierenden Effekten. Während Zeichnungen immer eine Auswahl seien, die mit ihrem Zeichenstil bzw. -technik und der Perspektive auf das Gezeichnete immer (nur) den Blick der Zeichnenden darstellen, umgebe das Foto ein „Mythos der fotografischen Natürlichkeit.“ Das Foto könne als Standbild der Realität, als Beweis für die Echtheit des Gezeigten fungieren. Dies macht sich die Werbefotografie zunutze. So wird z. B. Rasierschaum anstelle von Sahne zum Garnieren verwendet, da dieser unter der künstlichen Beleuchtung länger stabil bleibt. Um den Eindruck von Frische oder Feuchtigkeit zu erwecken, können Lebensmittel außerdem mit Speiseöl oder Wasser besprüht werden. Dies verleiht ihnen ein glänzendes und frisches Aussehen. Auch werden anstelle von echten Lebensmitteln manchmal Wachs- oder Plastikmodelle verwendet, an deren Perfektion kein essbarer Cheeseburger herankommt.
Doch ob das gezeichnete Foto heute noch als Beweis für ein leckeres Produkt dienen kann, darf angezweifelt werden. Dass der Cheeseburger anders aussieht als auf dem Foto, wissen wir, seitdem der erste McDonalds in Deutschland geöffnet hat. Essenswerbung versucht ohnehin häufiger, Emotionen zu wecken, als ein perfektes Produkt zu zeigen. Wie diese Emotionen und Narrative in die Werbung kommen, zeigt Nicole Wilk beispielhaft für Geflügelfleischwerbung. Die Spots nutzten Genderstereotype und das Ideal der Gesundheit, um Verkäufe zu erzielen und Zielgruppen zu erweitern. Dabei spielt die Symbolik von Fleisch und der Einsatz von Geschlechterklischees eine wichtige Rolle, um beim Publikum die gewünschte Interpretation zu stimulieren. Edeka hat die Lebensmittel, die sie angeblich so sehr lieben, schon fast gänzlich aus den weihnachtlichen Werbefilmen verbannt. Das Influencer-Marketing erscheint somit als natürliche Evolution dieser Entwicklung. Mit passgenauem Targeting werden mir genau die Produkte angezeigt, die mich zu interessieren haben. Der Markt nutzt das so bereitwillig kommunizierte und detailliert ausgestaltete digitale Selbst für seine Zwecke.
Medium des digitalen Selbst und Spaltungsmarker: Bilder von Essen in der Gegenwart
Heute ist der prominenteste Einsatz von Bildern von Essen wohl der zur Inszenierung des Selbst, auch weil sich dieser so gut in Reichweite und Umsatzsteigerung verwandeln lässt. Bilder von Essen sind good for Business. Und so produzieren sie in Form von Handyhalterungen an Restauranttischen eine infrastrukturelle Transformation. Bilder von Essen erschaffen durch ihr kommunikatives Potenzial eine an sie angepasste analoge Welt. Das wirft die Frage auf, wo sich die Realität abspielt: Gaines schreibt: „[A]ll media technologies that extend human capacities numb our sense of the medium itself.“ So könnte diese infrastrukturelle Adaption als Medium zur Erweiterung der Fähigkeit verstanden werden, den analogen Vorgang des Essens in unser digitales Selbst zu integrieren. Die „echte Welt“ verkommt zum Futter für das digitale Selbst.
Diese Verschiebung der Realität und des Selbst in den virtuellen Raum bringt einen weiteren Begleiteffekt mit sich: Das Selbst wird anhand seiner Reichweite quantifizierbar. Und so ermöglichen Bilder von Essen (Mikro-)Influencer*innen einen kostenlosen Restaurantbesuch. Hier zeigt sich die Ambivalenz der Essensfotografie auf Social-Media. Denn Plattformen und Konzerne machen die virtuelle Nähe zwischen Contentkreierenden und Follower*innen zur Währung. Je mehr Individuen ein Account durch den virtuellen Raum zu einer Community verbindet, desto ungleicher sind Sender*innen und Empfänger*innen der Essensbilder. Wir sitzen eben nicht gemeinsam mit Freunde*innen oder Vorbildern bei Tisch. Unsere digitale Existenz produziert neben Methoden der Selbstdarstellung auch Ungleichheit.
Aber auch darüber hinaus sind Bilder von Essen heute Zeichenträger einer gespaltenen Gesellschaft. Auf individueller Ebene werden vegane Restaurants, Steakhäuser oder Fast-Food-Ketten zu digitalen Orten, an denen wir unsere Zugehörigkeit zu Gruppen beweisen können. So werden Trennungslinien zwischen Interessens-, Meinungs- oder Bevölkerungsgruppen durch Bilder von Essen ausdifferenziert. Diesen Effekt nutzen bspw. konservative Politiker*innen, die mit Steaks oder Würstchen auf Social-Media posieren und so symbolisch gegen einen grün-vegan gelabelten politischen Gegner Stellung beziehen. Wie Bilder von Essen gesellschaftliche Gruppen abstecken, wird in einer Vemondo-Werbung aus dem Jahr 2022 besonders sichtbar: Sie greift die bekannte Coke-Zero-Werbung von 2014 („Wenn du willst, bin ich Manuel Neuer“) ironisch auf und aktualisiert ihre Kernbotschaft. Konnte der Protagonist (und damit die anvisierte, männliche Zielgruppe) von Coke-Zero noch alles haben (seine Freundin, mit Fußball-Stars in der Kabine feiern und natürlich eine zur Couch gebrachte Cola), ist die Botschaft in Zeiten von Debatten um Gleichberechtigung und Klimawandel ins Gegenteil verkehrt. Der Protagonist bei Lidls Vemondo-Spot kann als Metapher für Konservativismus verstanden werden, der „das Spiel nicht mitspielen möchte.“ Unterstrichen wird dieses Verständnis durch die Ehefrau, die ihm am Anfang zwar noch einen Burger bringt, sich am Ende aber nicht zurückverwandelt. Stattdessen liegt ein in Lidl-Trainingsanzug gekleideter Ralf Möller neben dem Mann, der einfach nur “seine” Frau zurückwill, zwinkert ihm zu und sagt: „Du kannst nicht alles haben, aber was du haben kannst, sind die veganen Produkte von Vemondo“. Damit ist die Grenze gezogen. Und die Handreichung, auch die Gegenseite könne die leckeren und günstigen Vemondo-Produkte (und Kochrezepte auf lidl.de) haben, ist wohl bestenfalls ein schwacher Trost und sicher kein Friedensangebot.
Das letzte Bild von Essen: Zurück zur Höhlenmalerei?
Bilder von Essen sind also Medium des digitalen Selbst und schieben die Realität zunehmend in den virtuellen Raum. Außerdem sind sie in der Form von Werbung ein Zeichen der gesellschaftlichen Spaltung. Aber was bringt die Zukunft? Wenn KI-generierte Deepfakes zukünftig die fotografische Natürlichkeit gänzlich auflösen, wird die sensorische Wahrnehmung dabei gewesen zu sein, immer wichtiger. In Reaktion darauf könnte der Geschmack als KI-sicheres Wasserzeichen der Realität eine Renaissance des Natürlichen in der Essenswerbung darüber hinaus bewirken. Das Bild verliert seine Bedeutung in der Unendlichkeit, aber das Essen bleibt. Gemeinsames Schmecken als fake-sicheres gemeinschaftliches Event der Zukunft? Oder entwickeln wir uns in die gänzlich andere Richtung: Individualisierung de luxe und Embrace the artificial? KI-generierte Werbespots für Lebensmittel (und warum nicht auch alles andere?) werden so eng auf feingliedrige Zielgruppen zugeschnitten, dass wir alle nur noch sehen, was uns zum Kauf bewegt. So würden auch kritische Autor*innen wie Nicole Wilk vorerst zum Schweigen gebracht. Die von ihr kritisierten Werbespots bekäme sie schlicht nicht mehr zu sehen.
Danach droht eine noch düsterere Zukunft der Bilder von Essen. Im Angesicht des Klimawandels erscheint eine Prognose von Hirschfelder relevant: Er sieht die aktuelle Ernährungs- und Esskultur im Kontext des in Europa weitgehend besiegten Hungers als Folge eines Überflusses an Nahrung. Aber „Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Wasserknappheit oder auch der Rückgang ertragreicher Agrarflächen könnten ein explosives Gemisch ergeben.“ Dies wird auch die Bilder von Essen verändern: Werden blühende Landschaften auf dem Mars mit dem Schriftzug „We will persist“ zum Werbemotiv für Monsanto – und für uns Dagebliebene zum Sehnsuchtsobjekt des Fortschrittsglaubens? Oder kann der leere Teller, der des Öfteren als Motiv für Werbekampagnen von Hilfsorganisationen fungierte, ein früheres Umdenken bewirken? Mit Blick auf Wasserknappheit in großen Teilen Europas könnten solche Bilder den heute gängigen Food-Content auf Social-Media früher ablösen, als uns lieb ist. Und wenn die Geotags dieser Posts immer näherkommen, erst in Südeuropa und schließlich auch in Deutschland, schafft das vielleicht Motivation zum gemeinsamen Kampf gegen die Katastrophe – wenn es dann nicht bereits zu spät ist.
Welchen Weg die Menschheit und die ihre Entwicklung begleitenden Bilder von Essen einschlagen werden, ist nicht vorherzusehen. Sicher ist aber, dass es Bilder von Essen schon immer gab und sie uns so lange begleiten werden, wie es die Menschen gibt. Sollte es nicht gelingen, die globalen Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen, ist der Fortbestand der Menschheit ernsthaft in Gefahr. Aber wenn wir tatsächlich mit einem großen Knall zu Ende gehen, hätte ich einen Vorschlag, der den Überlebenden helfen könnte: Wir zeichnen an die Wände der Katakomben, die dem Rest der Menschheit Unterschlupf dienen, eine piktografische Anleitung zur Nahrungsmittelbeschaffung: Szenen vom Jagen und Sammeln.