Koloniale Raubkunst und ihre Aura Ein Essay über das Ausstellen von Sammlungsobjekten im kolonialen Kontext.

„I have a white frame of reference and a white worldview”. Dieser Satz sticht mir in die Augen, sobald ich die Ethnologische Ausstellung im Humboldt Forum betrete. Weiter lese ich auf den großen Informationstafeln, man sei sich der Aufgabe einer kritischen Aufarbeitung der Bestände aus der Kolonialzeit bewusst und gehe diese in Kooperation mit den Herkunftsgesellschaften an. Na, dann wollen wir mal: Ich betrete den ersten Raum, in dem anhand von Fotografien, Einblicken in Schulbücher, Skulpturen und Interviews die Blicke zwischen Kolonisatoren und ehemals kolonisierten Gesellschaften reflektiert werden. Unerwartet kritisch, multimedial, partizipativ, niedrigschwellig – erfrischend unmuseal. Doch meine Hoffnung, die Ausstellung nehme sich die Eingangsworte zu Herzen, wird im nächsten Raum schon zunichte gemacht: Sammlungsobjekte dicht an dicht, ohne Kontext aber dafür mit Spotlight. Das höchste der Gefühle sind Angaben zur Herkunftsregion. Der Gang an den Vitrinen vorbei erinnert mich stark an einen Besuch im Supermarkt, Raubkunst to go quasi. Installationen von Schwarzen Künstler*innen und der Family Space, mit seinem interaktiven Wink ein rassismuskritisches Denken von klein auf fördern zu wollen lässt mich kurz aufatmen. Und trotzdem wird mir schwindelig bei dem Gedanken, wie viele Objekte ich gerade bestaunen durfte und wie viele weitere noch in den Archiven schlummern. Am Ende bleibt ein Gefühl von gut kaschiertem Objektfetischismus.

Was zieht uns weiße Europäer*innen eigentlich in die Ethnologischen Museen? Was fasziniert gerade uns an den Holzfiguren und Masken aus Kamerun, an Elfenbeinobjekten und der traditionellen Kleidung aus Namibia?

Ist es das Gefühl der Ermächtigung, die bloße Neugierde auf Unbekanntes, das schiere Interesse an Kunst und Ästhetik anderer Kulturkreise oder sind wir einfach hungrig nach Wissen? „Knowledge ist Power“ („Wissen ist Macht“) schrieb einst der englische Philosoph Francis Bacon und legte in seinen Werken den Grundstein für die Philosophie während der Aufklärung. Das Zeitalter der Aufklärung: Die glorreiche Epoche, die uns durch Hinwendung zu den Naturwissenschaften, Vernunft und Rationalität den Fortschritt im Denken und die Emanzipation des Menschen bescherte. Klingt wunderbar und erstrebenswert. Doch wurde uns in der Schule auch gelehrt, mit welchen Mitteln und Methoden wir an dieses „Wissen“ gelangten? Mir nicht.

Die Vorstellung Europa, beziehungsweise der „Westen“, sei der Vorreiter der globalen Entwicklung und dass man diese aus eigener Kraft schaffte, ist ein typisches Wahrnehmungsschema und Identitätskonstrukt der westlichen Gesellschaft. Doch dass wir dort stehen, wo wir heute sind, ist maßgeblich das Produkt von Ausbeutung anderer Territorien und Kulturen. Nur durch das Aneignen verschiedener Techniken der Kolonisierten, indem Land enteignet und Rohstoffe ausgebeutet wurden, war es für Europäer*innen überhaupt möglich ihre heutigen, ja so „entwickelten“ und „zivilisierten“ Länder aufzubauen. Das Wissen und der daraus resultierende Fortschritt in der Zeit der Aufklärung bis heute beruhen auf Plünderung, Willkürherrschaft, Ausbeutung und Gewalt, Versklavung und Ethnoziden, kurz gesagt: dem Kolonialismus. Die eurozentrische und weiße Geschichtsschreibung hat jedoch diese Gräueltaten des Kolonialismus für Jahrhunderte ausgeblendet, wodurch sich ein struktureller Rassismus manifestierte, der bis heute nachwirkt.

Der Diskurs um die koloniale Raubkunst reflektiert diese gesellschaftlichen Machtverhältnisse sehr eindrücklich. Die in Berlin und Paris lehrende Professorin der Kunstgeschichte und Expertin in Fragen der Restitution, Prof. Dr. Bénédicte Savoy, weist in ihrem Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“ nach, dass unter anderem Nigeria schon seit 50 Jahren Rückgabeforderungen stellt. „Die Museumskuratoren befürchteten damals – wie heute auch – den Bedeutungsverlust ihrer Sammlungen und beanspruchten die alleinige Deutungshoheit für die Kunstwerke, deren koloniale Herkunft sie verdrängten. Das Argument, den Nachfolgestaaten in Afrika fehle es an Expertise und Infrastruktur, um die Artefakte angemessen aufzubewahren, habe unwidersprochen gegolten.“

2017 hielt der französische Präsident Emmanuel Macron eine Rede, in der er die Rückgabe kolonialen Raubgutes ankündigte und damit Druck auf andere Länder ausübte.[1] Das war der denkbar schlechteste Zeitpunkt für Deutschland, denn der Bau des Humboldt Forums war in vollem Gange. Dieser „einzigartige Ort des Erlebens und der Begegnung“, so das Humboldt Forum selbst, scheint seither eher wie ein Ort des Grauens. Schon bevor der erste Spatenstich im Juni 2013 erfolgte, stand das Haus in der Kritik. Ein Bau, der ursprünglich im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, dessen Ruine 1950 gesprengt und jetzt rekonstruiert wurde. Es handelt sich um das Berliner Schloss der Hohenzollern, unter deren Herrschaft Preußen zur deutschen und europäischen Führungsmacht aufstieg und sich das Deutsche Reich etliche Kolonien unter den Nagel riss. Ausgerechnet in diesem 690-Millionen-Euro-Bau befindet sich das Humboldt Forum, dessen ethnologische Sammlung rund 500.000 Exponate aus afrikanischen Ländern und anderen Kolonien, wie China, Indien, Papua-Neuguinea oder indigenen Gemeinschaften Amerikas umfasst. Das riecht doch nur nach Konfliktpotenzial. Ob dem Generalintendanten Hartmut Dorgerloh da „die Menschen die Bude einrennen werden“, bleibt abzuwarten.

Das Herzstück der Ausstellung sollten die Benin-Bronzen sein, die in den letzten Jahren zum Symbol im Streit um Rückgaben kolonialer Raubkunst geworden sind. Nach langem Zögern erbarmte sich die Stiftung Preußischer Kulturbesitz schlussendlich doch und veranlasste die Rückgabe an Nigeria. Dies wird womöglich enorme Konsequenzen für andere ethnologische Museen haben, denn die Bronzen gehören zu den bekanntesten und wertvollsten afrikanischen Kulturgütern. Auf 85 bis 90 Prozent wird der Anteil des afrikanischen Kulturerbes geschätzt, das nicht auf dem Kontinent, sondern in europäischen und nordamerikanischen Museen lagert oder gezeigt wird.

Was machen wir wissensdurstigen Europäer*innen, wenn alle Raubkunst an ihre Herkunftsgesellschaften zurückgegeben wird? Stehen wir dann in leeren Museen?

Die CDU-Politikerin und ehemalige Kulturstaatsministerin, Monika Grütters, hat da eine Idee: Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk stellt sie sich die Frage, „ob man tatsächlich treuhänderisch Dinge, die man rücküberträgt an die nigerianische Seite, im Original hierbehält, oder ob es besser ist sie tatsächlich körperlich zurückzuführen und hier Repliken anzuschaffen“.

Ja, warum eigentlich nicht? Klingt nach der brillanten Lösung. Die Kunst wandert in ihr Ursprungsland zurück und wir stellen uns das identische Stück einfach zurück in unsere Vitrine. Niemand muss auf etwas verzichten. Und seien wir mal ganz ehrlich: Würden wir das Original überhaupt von der technisch einwandfrei hergestellten Kopie unterscheiden können? Ob es sich um ein Original oder eine Kopie handelt, lässt sich nicht mit eigener Seherfahrungen beurteilen, sondern aufgrund der mit dem Werk verbundenen Etiketten. Walther Benjamin hält in seinem epochalen Werk von 1935 „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ fest, dass im Zuge der Vervielfältigung, anstelle des Kultwertes, der „Ausstellungswert“, also die materielle Bedeutung gerückt sei. Unser Blick, so Benjamin, hat sich beschleunigt und sei damit unsorgfältig geworden. Wir bewerten ein Kunstwerk nicht mehr anhand technischer Aspekte, sondern anhand von z. B. Preis und Künstlernamen.

Und selbst das kann manchmal trügerisch sein, wie uns Wolfgang Beltracchi zeigt, der über Jahre hinweg im Stil bekannter Künstler wie Pablo Picasso, Max Ernst oder Heinrich Campendonk malte und sie als vermeintliche Originale für mehrere Millionen Euro in den Umlauf brachte. Oder die angeblich 2200 Jahre alten chinesischen Terrakottakrieger aus Xian, die das Hamburger Völkerkundemuseum als Spektakel ankündigte und dann als Fälschungen enttarnt wurden. Die Liste bekannter Kunstfälschungen ist lang. Tatsächlich arbeiten Museen, Galerien und andere Kulturinstitutionen aber immer häufiger mit Reproduktionen – so auch das Humboldt Forum.

Wer jetzt zwanghaft nach dem Wort für das Gespinst sucht, den die Replik nicht verkörpern kann, Benjamin hat die Antwort: die Aura. Benjamins Ansicht nach sei dem Original seine Einzigartigkeit gegeben, seine Aura, weil es zunächst in einem kultischen Kontext gestanden habe. Die Originalität sei nur gegeben, wenn es mit Ritualen, also einem Entstehungsmoment, verknüpft sei. In der Reproduktion gingen allerdings Qualitäten des Originals, nämlich Einmaligkeit und Dauer, verloren und folglich auch die Aura, da das Kunstwerk in neue Kontextualisierungen gebunden wird.

Ein zeitgenössischer Gegenentwurf zu Benjamins Aura-Begriff geht auf den französischen Literaten Marcel Proust zurück, der betont, dass „die Dinge nicht von sich aus eine Macht“ haben, sondern „wir selber vielmehr diejenigen sind, die sie mit Macht begaben“. Die auratische Erfahrung wird demnach evoziert. Sie geht nicht auf den Gegenstand an sich zurück, sondern auf die subjektive Empfindung der Betrachter*innen. Diese Empfindung wird durch bestimmte Wahrnehmungsbedingungen geprägt, die eine „Annährung“ an das Objekt lenken. Wären die Sammlungsobjekte im Humboldt Forum auf einem weißen Schreibtisch unter greller Neonbeleuchtung ausgestellt, würde wohl kaum jemand von Aura sprechen. Dann doch eher in einem dezent abgedunkelten Raum mit anthrazitfarbenen Wänden und einem wirkungsvollen Akzentlicht auf dem Exponat. Nur die gläserne, blitzeblank polierte Vitrine trennt das Objekt vom Betrachtenden und scheint, um es mit Benjamins Worten zu sagen, unnahbar. Diese Unnahbarkeit wird durch die ästhetisierende Präsentation noch verstärkt. Und schon erhalten die ausgestellten kolonialen Objekte einen mystischen, ehrfurchtsheischenden Charakter, sie wirken besonders und mächtig. Ob Original oder Reproduktion spielt hierbei scheinbar keine Rolle.

In der Tat sollte man sich aber überlegen, wie angemessen es ist eine Kopie eines Kunstwerkes zu erstellen, das im Kolonialismus gewaltsam an sich gerissen wurde. Denn es geht hier keineswegs darum, die Kulturgüter zu reproduzieren und sich wieder in den Schaukasten zu stellen, sondern es geht um die Anerkennung und Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit. Die Rückgabe wäre ein Anfang dessen. Das Kopieren dieser Kunst würde völlig an der Debatte vorbeigehen und nur einmal erneut zeigen, in was für einer eigentumsorientierten Gesellschaft wir leben.

Seit kurzem scheint die Provenienzforschung der neue Hit zu sein. Überall liest man von der großen Motivation, die Fragen der Herkunft und der Erwerbsgeschichte der Sammlungsobjekte zu klären. Sogar das Humboldt Forum stellte sage und schreibe 4 Forscher*innen ein, um den Ursprüngen der 500.000 Objekte auf den Grund zu gehen. Darüber hinaus fordert der Deutsche Museumsbund, in seinem Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, vor allem eine respektvolle Zusammenarbeit und einen multilateralen Austausch auf Augenhöhe mit den Herkunftsgesellschaften, um mögliche Umgangsweisen zu erarbeiten. Die Ergebnisse sollen in Veröffentlichungen, Ausstellungen und online zugänglich gemacht werden. Viele der Sammlungen sind bereits im Internet einzusehen und Herkunftsgesellschaften können im besten Falle finden, was ihnen fehlt. Informative Fotografien und eine multiperspektivische Kontextualisierung der Objekte könnten die ethnologischen Museen ablösen, zumal im Corona-Multimedia-Zeitalter digitale Angebote sowieso einen neuen Hype erleben. Abgesehen davon, dass die Originale endlich an die Herkunftsländer zurückgegeben werden könnten, ohne „Wissen“ einbüßen zu müssen, hat das Online-Museum noch viele weitere Vorteile, wie zum Beispiel eine orts- und zeitunabhängige Zugänglichkeit, multimediale Vermittlungsmöglichkeiten oder Accessibility.

So wichtig und richtig die Rückgabe der Benin-Bronzen und der anderen 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes ist, so entscheidend ist also die weitere Kommunikation dessen in Europa. Es sollte nicht darum gehen, eine historische Schuld loswerden zu wollen und sein moralisches Gewissen zu reinigen, denn dann wird die Rückgabe zu einem sinnentleerten Akt. Das wäre fatal für die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und der „Bekämpfung“ von Rassismus. Vielmehr muss die kulturelle und politische Geschichte der Kolonialisierten in Europa sichtbar gemacht werden, aber bitte ohne Ideologie.

 

[1] Ganze 26 Kunstobjekte wurden nach der Unterzeichnung des Übergabevertrags vom 9. November 2021 an Benin zurückgegeben. 26 von geschätzten 90000.

 

Quellenverzeichnis

Benjamin, Walther (1974): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Unseld, Siegfried (1977): Walther Benjamin Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Burmeister, Stefan (2014): Der schöne Schein. Aura und Authentizität im Museum, In: Golden House Publications (Hg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie, London.

Deutscher Museumsbund e.V. (2021): Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, 3. Fassung, Berlin, URL: https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt gesichtet am 24.04.2022).

Ellmenreich, Maja (2021): „Benin-Bronzen: Kulturstaatsministerin Monika Grütters: ‚Maximal offen für Rückgaben‘“, Deutschlandfunk, 30.04.2021, URL: https://www.deutschlandfunk.de/benin-bronzen-kulturstaatsministerin-gruetters-maximal-100.html (zuletzt gesichtet am 20.04.2022).

Hoff, Sigrid (2021): „Streit um Benin-Bronzen. Debatte um koloniale Raubkunst in Berlin dauert an“, In: Migazin, 12.04.2021, URL: https://www.migazin.de/2021/04/12/streit-benin-bronzen-debatte-raubkunst/ (zuletzt gesichtet am 20.04.2022).

Messmer, Susanne (2021): „Raubkunst in Berlin. Postkoloniale Leerstellen“, In: taz, 23.03.2021, URL: https://taz.de/Raubkunst-in-Berlin/!5757043/ (zuletzt gesichtet am 20.04.2022).

Recki, Birgit (1988): Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walther Benjamin und Theodor W. Adorno, Reihe Philosophie 50, Königshausen & Neumann.

Schildbach, Linda (2021): „Es wird ein Vorher und ein Nachher geben“, in: tagesschau, 27.10.2021, URL: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/frankreich-kulturgueter-benin-101.html (zuletzt gesichtet am 30.03.2023).

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